Kategorien
Gedankenmalerei

Das Byron-Syndrom

In „Wir in den schönsten Farben“ gibt es eine Passage, auf die mich einige Leserinnen immer wieder mal angesprochen haben. Es geht um eine von mir erfundene „Krankheit“, die Infizierte dazu verleitet, dem mysteriösen und wortkargen Einzelgänger liebestoll hinterherzuschmachten. 

„Ivy nannte es das Byron-Syndrom –  ein fieser Virus, den sich ihre Kolleginnen eine nach der anderen einfingen. All diese Mädchen hielten Jack für den grüblerischen Helden eines viktorianischen Liebesromans, den nur die wahre Liebe von seinen inneren Dämonen befreien konnte.“

„Wir in den schönsten Farben“

Hier spricht die eigene Erfahrung aus mir, denn auch ich habe mir schon unzählige Male diesen Virus eingefangen und bin teilweise nie wieder ganz genesen. 

Doch warum Byron?

Weil alles seinen Ursprung zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat. Als George Gordon Noel Byron, 6. Baron Byron of Rochdale – besser bekannt unter seinem Hipsternamen Lord Byron – mit seinem autobiographischen Versepos „Childe Harold’s Pilgrimage“ (zu deutsch: „Ritter Harolds Pilgerfahrt“) der Welt einen neuen literarischen Archetypen schenkte. Oder vielmehr Antihelden: Einen zynischen Egoisten, der Trübsinn im Herzen und Arroganz auf der Zunge trägt.

Ein Jüngling lebte einst an Englands Küste,
Der an der Tugend kein Vergnügen fand,
In Schwelgen bracht‘ er seine Tage hin und wüste
Und hob mit Lärm der stillen Nacht Gewand.
Ach sein Getreibe roch nach Schimpf und Schand‘!
Er lebte nur für wilde Zechgelage,
Nur wenig Dinge fand er int’ressant,
Vor Allem Dirnen von gemeinem Schlage
Und schnöde Brüderschaft aus jeder Lebenslage.

„Ritter Harolds Pilgerfahrt“

Harold wird manchmal als Mischung aus Werther und Hamlet beschrieben, doch er ist viel abgeklärter. Selbstsicherer. Nicht so weinerlich. Passender ist der oft genutzte Vergleich mit dem frisch aus dem Himmel gestürzten Satan aus Milton’s „Verlorenem Paradies“. Harold ist der Urtyp des Bad Boys. Ein Außenseiter, ein Geächteter, der seine eigenen Belange und seine Sicht auf die Dinge über alles andere stellt und einen äußerst destruktiven Lebensstil pflegt. 

Nicht gerade das, was man im Katalog unter Traummann finden würde. Und dennoch durchstreift der Typus des mürrischen Menschenfeindes in abgeänderter (und manchmal weichgespülter) Form seit mehr als zweihundert Jahren erfolgreich die Literatur und lässt reihenweise die Herzen höher schlagen – ob er nun die Lizenz zum Töten hat, als in der Sonne funkelnder Adonis-Vampir daherkommt oder viel Stolz und einige Vorurteile im Gepäck mitbringt.

Selbst wenn er nicht als Herzensbrecher unterwegs ist, sondern als im Fernsehen als zynisches Genie im weißen Kittel Leben rettet, als unverhoffter Schutzpatron eines Zauberlehrlings agiert oder als dauerbetrunkener Pirat durch die Karibik stolpert, sammelt er trotz seines asozialen Verhaltens jede Menge Sympathien, weil er eben anders ist, geheimnisvoll und unnahbar. Weil er kluge Dinge sagt, auch wenn er dumme Dinge tut. Und weil man ahnt, dass seine Feindseligkeit gegenüber der Welt und all der Spott gegenüber seinen Mitmenschen nur ein Schutzschild sind, um seine geschundene Seele vor noch mehr Schaden zu bewahren.

Der Byronische Held hat es nie leicht gehabt im Leben. Er trägt eine Rüstung aus Narben, Kränkungen und Schmerz. Doch manchmal kommt jemand, der es schafft, diesen Panzer Schicht für Schicht geduldig abzutragen. Jemand der sich nicht so einfach wegstoßen lässt. In einem meiner Lieblingsbücher ist es eine unscheinbare Gouvernante, und den beiden dabei zuzusehen, wie sie sich langsam annähern und gegenseitig die Wunden heilen, die ihnen von anderen Menschen zugefügt wurden, war eines meiner mitreissendsten und berührendsten Leseerlebnisse. Dem wollte ich in „Wir in den schönsten Farben“ ein kleines Denkmal setzen, auch wenn Jack streng genommen gar nicht so byronisch ist, wie es anfänglich den Anschein macht.

Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Im nächsten Buchprojekt „Funkenwind“ wird es vermutlich archetypischer. Denn eines muss man sagen: Wen das Byron-Syndrom einmal erwischt hat, bei dem stehen die Chancen auf Heilung schlecht.

Schreibe einen Kommentar