
Ich kenne Erna schon lange – fast mein ganzes Leben. Und doch weiß ich eigentlich gar nicht genau, wann das mit uns beiden angefangen hat. Sie war einfach irgendwann da.
Erna ist immer in Sorge. Dass etwas schiefläuft, dass etwas Schlimmes passiert, dass die Dinge durch eine einzige kleine Fehlentscheidung unabänderlich aus dem Gleichgewicht geraten und alles in sich zusammenbricht.
Zu Schulzeiten und in der Uni hat sie mir damit oft geholfen, gewisse Dinge auch wirklich Ernst zu nehmen. Hunderte Male ist sie mit mir zusammen die Folien für die Referate durchgegangen und in Prüfungsphasen saß sie mir solange im Nacken, bis ich die Lehrbücher quasi auswendig konnte.
Danach wurde es etwas schwierig zwischen uns, denn Erna wurde mit der Zeit immer übergriffiger. Manchmal saß sie nachts an meinem Bett und fragte mich, ob ich das Zwicken hier und da nicht mal langsam von einem Arzt abklären lassen wolle. Es könne ja schließlich das Böse Wort mit K sein.
Wenn jemand nicht gleich auf meine Nachricht antwortete, war sie felsenfest davon überzeugt, dass derjenige mir für immer und in alle Ewigkeit die Freundschaft gekündigt hatte und es auf jeden Fall meine Schuld war.
Und wenn ich Urlaub buchen wollte, schüttelte sie nur verständnislos den Kopf und hielt mir eine Liste der letzten Meldungen zu Flugzeugabstürzen, vermissten Touristen und exotischen Krankheiten vor die Nase.
Erna ist eben die Königin der Worst-Case-Szenarios. Was schiefgehen kann, wird definitiv schiefgehen. Selbst die schönen Momente ziehen ihrer Ansicht nach unweigerlich Schlechtes nach sich, und so kann sie sich nie über ein sonniges Hoch freuen, weil sie zu sehr damit beschäftigt ist, das nächste Tief vorherzusagen.
Warum sie dennoch meine Freundin ist? Weil man jemanden wie Erna nicht einfach aus seinem Leben streichen kann. Früher oder später findet sie ihren Weg zurück. Meistens hat sie eine Rotlicht-Sirene und ein Megafon dabei.
Also habe ich lernen müssen, mit ihr auszukommen – sie in ihrer verschrobenen Art an meiner Seite zu akzeptieren. Wenn sie aufdreht, trete ich auf die Bremse. Wenn sie lossprudelt, hole ich tief Luft, bevor sie mir alles wegatmet.
Und ich höre ihr zu. Dabei geht es nicht unbedingt um das, was sie sagt, als vielmehr um die Frage, warum sie es sagt. Je besser ich den Schwall an Sorgentropfen filtere, den sie über mir auskippt, umso leiser wird Erna irgendwann. Seitdem ich das erkannt habe, läuft es viel entspannter zwischen uns.
Manchmal ärgere ich sie, indem ich absichtlich Dinge tue, die sie ganz und gar nicht gut heißt. Einfach um ihr zu zeigen, dass sie nicht über mich bestimmen kann.
Mit Erna leben bedeutet, einen nervösen Schatten zur Freundin zu haben. Es bedeutet oft, Wolken zu sehen, wo gar keine sind. Mit Erna leben bedeutet aber vor allem, sich selbst besser kennenzulernen. Jeden Tag. Stück für Stück.
Und dafür bin ich ihr wirklich dankbar.