3 Ode an die Freundschaft

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»Ich verstehe nach wie vor nicht, wo das Gift hergekommen ist. Mason ist doch beim Eintreffen gefilzt worden.« Orla lehnte am Bartisch, das Kinn auf ihre Hand gestützt. »Vielleicht hat er die Kapsel im Schuh versteckt. So etwas wird schnell übersehen.« Nachdenklich nahm sie einen Schluck aus ihrer Flasche. »Aber warum sollte Mason Gift mit sich führen? Das ergibt doch gar keinen Sinn.« Beim Anblick der Feierfreudigen bereute sie zum wiederholten Male ihre Entscheidung, sich von Doyle hierher schleifen zu lassen. Wie sollte man bei dem Lärm ein Gespräch führen? »Außerdem hatte ich nicht den Eindruck, dass er lebensmüde war«, sagte sie – mehr zu sich als zu ihrem Begleiter. »Im Gegenteil – er hatte eine Heidenangst davor, dass Grogon ihm etwas antut. Das alles passt überhaupt nicht zusammen.«

»Das ist jetzt drei Wochen her, Mo«, rief Doyle gegen die Musik an. »Es ist dumm gelaufen und das mit deiner Beurlaubung war nicht fair, aber der Fall ist abgehakt. Du solltest es gut sein lassen.«

Auf der Karaoke-Bühne versuchte sich gerade ein älterer Mann an einer Rock’n’Roll-Nummer inklusive Hüftschwung. »Wenn der so weitermacht, müssen wir einen Arzt rufen.« Mit besorgter Mine wandte Doyle sich ab. »Ich kann das nicht mit ansehen. Ich hole uns lieber mal Nachschub.« Er sprang vom Barhocker, verharrte aber in der Bewegung. »Wenn ich wiederkomme, will ich nichts mehr von Grogon oder Mason hören. Wir sind hier, um Spaß zu haben.«

Das falsche Lächeln, das Orla ihm schenkte, hielt nicht lang. Sobald er in der Menge verschwunden war, nahm das Trübsal sie wieder in seine gierigen Arme. Abhaken. Wie stellte er sich das vor? Wenn noch so viele Fragen offen waren. Sie hatte es verbockt, doch nun sammelten andere die Scherben auf. Dass Parker und Stone die Richtigen für den Job waren, bezweifelte sie. Schließlich schickte man keinen Gorilla zum Aufräumen in den Porzellanladen.

Seit drei Wochen durchkämmten sie nun schon Pandaemonia – ohne jeden Erfolg. Drei Wochen, in denen Orla – per Suspendierung zur Untätigkeit verdammt – zu Hause gesessen und vom vielen Grübeln fast den Verstand verloren hatte. Immer wieder war sie wie im Wahn die Fallakten durchgegangen, die Doyle ihr (nicht ohne Protest!) heimlich kopiert hatte. Niemand kannte Grogon so gut wie sie. Sie wusste, wie er dachte, wonach er strebte, was er mied. Mit dem richtigen Plan – da war sie sich sicher – hätte man ihn aus seinem Versteck locken können. So blieb nur blindes Umhertasten auf feindlichem Territorium. Versuch und Irrtum. Mit dem kleinen Haken, dass jeder Irrtum im Reich der Dämonen schnell tödlich enden konnte.

»Was verspricht sich der Chief bloß davon, seine Kampftruppe in Pandaemonia einmarschieren zu lassen?«, fragte Orla sich laut genug, dass Doyle, der gerade an den Tisch zurückkehrte, es hören konnte. »Warum dieser blinde Aktionismus? Der bringt uns überhaupt nicht weiter.«

Den bösen Blick, den er ihr zuwarf, wehrte sie mit beiden Händen ab. »Was denn? Ich habe weder Grogon noch Mason erwähnt.«

»Schon seltsam, wie die Dinge manchmal laufen, oder?« Schwungvoll schob Doyle ihr ein Bier zu. »Wenn die Sterne anders entschieden hätten, würde ich jetzt vermutlich mit den Jungs von der Kampftruppe Pandaemonia durchforsten.« Ein Ausdruck des Bedauerns huschte über sein Gesicht.

»Ihr Verlust ist mein Gewinn.« Orla legte ihre Hand auf seine. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass du keiner von denen bist, sondern einer von uns. Dass du mit mir abhängst und nicht mit diesen selbstverliebten Abrissbirnen.« Für einen Moment fragte sie sich, ob ihr Lächeln genügte. Ob es all das erzählte, was sie gerade fühlte. Denn es gelang ihr selten, ihr Herz für andere sichtbar zu machen. In solchen Dingen war sie nicht geübt. Verlegen räusperte sie sich. »Ohne dich wäre ich nämlich ziemlich verloren.«

Doyle betrachtete ihre Hand, die seine gelähmten Finger umschloss. »Du hast Recht«, erwiderte er. »Ohne mich wärst du wirklich verloren.« Seufzend lehnte er sich zurück und gab den Überheblichen. In der Rolle war er zwar alles andere als glaubhaft, aber dafür umso komischer. Er zwinkerte ihr lächerlich übertrieben zu, als hätte er etwas im Auge und hob die Flasche, um anzustoßen. »Auf die Freundschaft, Partner.« 

»Auf die Freundschaft«, sagte Orla. »Und auf den besten Außenkontakt, den ich mir wünschen kann.«

»Auf die beste Undercover-Agentin der APA«, sagte Doyle.

»Das sehen die da oben aber ganz anders.« 

»Ach, der Chief beruhigt sich schon wieder. Er weiß ganz genau, was er an dir hat. Und sieh es doch mal so: Endlich kommst du zu den Dingen, die du während deiner Zeit bei den ›Kindern der Sonne‹ vernachlässigt hast. Wie …«

Da er den Satz nicht beendete, sah Orla ihn fragend an. »Wie …?«

»Wie das hier: Ausgehen, Spaß haben, Freunde treffen.«

»Die vielen Freunde, die Schlange stehen, um sich spontan mit mir zu treffen, nachdem ich mich monatelang nicht gemeldet habe? Die Freunde, denen ich dann schweigend gegenübersitze, weil ich nichts von meiner supergeheimen Geheimarbeit für eine offiziell nicht existierende Abteilung des FBI erzählen darf, sonst aber so wenig Berichtenswertes in meinem Leben passiert, dass ich letztendlich nichts Sinnvolles zu einem Gespräch beitragen könnte und sie es deshalb vorziehen, mir aus dem Weg zu gehen? Diese Freunde?«

»Wenigstens wollen deine Freunde dich nicht tot sehen, weil du für den Feind arbeitest«, konterte Doyle.

Sofort bereute Orla ihr Gejammer. Dass ihr Freund als Verräter galt und vermutlich nie wieder einen Fuß ohne Leibgarde in seine alte Heimat setzen konnte, war etwas, das er wie schwere Steine in seinen Taschen mit sich trug, auch wenn er versuchte, die Last mit Humor zu kaschieren. »Damit gehe ich dann wohl in Führung in der Opfer-Olympiade«, sagte er.

»Ich wäre mir da nicht so sicher.« Orla runzelte die Stirn. »Ich hab zu Hause ein massives Fruchtfliegenproblem.« 

»Touché.« 

»Ernsthaft«, sagte sie. »Die sind überall. Und sie führen sich auf, als gehöre ihnen alles. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie in meiner Abwesenheit die Schlösser ausgetauscht haben.«

»Okay okay. Gleichstand.« Doyle hielt ihr die Flasche entgegen, um erneut anzustoßen. »Und du weißt, dass du jederzeit bei mir Zuflucht findest.« 

Ihn lächeln zu sehen, war ihre größte Belohnung. Orla wusste, dass er kein Mitleid wollte, kein Seufzen, das es nur noch schwerer machte. Nichts, was sie tun oder sagen würde, konnte etwas ändern, auch wenn es noch so mitfühlend verpackt war.

»Mir fällt übrigens noch etwas ein, das ich an deiner Stelle mit der geschenkten Zeit machen würde«, sagte er. »Ausschlafen!« Er schloss die Augen, als würde er sich den Moment vorstellen. »Einfach liegen bleiben und nichts tun. Himmlisch!«

»Oder Bücher lesen, während der Regen an die Scheiben klopft«, stimmte Orla ein. »Bücher, die einem noch Tage später nachhängen.«

»Du könntest auch eine gute Freundin sein und endlich mal »Spur des Glücks« anfangen. Ich weiß nicht, wie du den Rückstand noch aufholen willst.« 

Doyle als Überfan der Telenovela zu bezeichnen, wurde seiner Obsession nur wenig gerecht. Jede einzelne Folge der bisher zwanzig Staffeln hatte er aufgenommen und archiviert. Akribisch studierte er die Dialoge und Szenen – jeden Hochzeitsschwur und jede Grabrede kannte er auswendig. Es würde ihm helfen, die Menschen besser zu verstehen, hatte er seine Leidenschaft einmal verteidigt. Doch es war mehr. Die Serienfiguren waren längst zu Familienmitgliedern geworden und er litt mit ihnen, als wäre er wirklich dabei.

Und nicht nur TV-Schmonzetten hatten es ihm angetan. Kulturell war er inzwischen tiefer in der Menschenwelt verwurzelt als in seiner eigentlichen Heimat Pandaemonia. Wie ein Schwamm sog Doyle alles auf, was über den Bildschirm flimmerte oder aus dem Radio schallte. Regelmäßig fiel er in tiefe Internetlöcher, aus denen er dann körbeweise unnützes Wissen mitbrachte und über Orla ausschüttete.

»Wobei warte, nein …« Doyle schüttelte den Kopf. »Ich muss dabei sein, wenn du die ersten Folgen guckst und in diese Welt eintauchst. Du brauchst jemanden, der dir im richtigen Moment die Taschentücher reicht.« 

»Guter Punkt«, erwiderte Orla. »Ich könnte das nicht ohne dich durchstehen.«

»Apropos gemeinsam …« Wie vom Blitz getroffen sprang Doyle auf. Orla fragte sich, ob er ihre Spitze absichtlich ignorierte oder nur wieder einen seiner Welpenmomente hatte, in denen ein vorbei flatternder Schmetterling reichte, um ihn abzulenken. »Du und ich – wir haben da noch was offen.«

»Und was soll das sein?« Verwundert sah sie ihn an.

»Du weißt es nicht mehr?« Doyle fasste sich an die Brust, als wäre sein Herz stehen geblieben. »Das kränkt mich jetzt.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Du hast beim letzten Mal, als wir hier waren, etwas versprochen.« Grinsend bot er ihr seinen Arm an. »Vielleicht fällt es dir ja auf dem Weg dahin wieder ein.« Orla hatte das Gefühl, in einen Hinterhalt gelockt zu werden, doch sie kam brav seiner Aufforderung nach.

Als sie nach wenigen Schritten merkte, dass er auf die Bühne zusteuerte, blieb sie abrupt stehen. »Auf keinen Fall.«

»Du hast es versprochen.«

»Es gibt keine Zeugen dafür und du hast nichts schriftlich.«

»Ich hab dein Wort, Orla Mayfield.«

»Aber ich war überhaupt nicht zurechnungsfähig, als ich das gesagt habe. Das war aus einer Laune heraus.« Nur widerwillig folgte sie Doyle. »Außerdem läuft uns das doch nicht weg. Wir können das auch wann anders machen. Wenn die Hölle zugefroren ist zum Beispiel.«

Doch kurz darauf stand sie schon auf der kleinen Bühne und musste mit ansehen, wie Doyle dem Mann an der Karaoke-Maschine seine Instruktionen gab. Dass sein Musikwunsch mit einem Lachen quittiert wurde, ließ Orla nur noch nervöser werden. Sie spürte die neugierigen Blicke der Bargäste auf sich und hatte das Gefühl, sich schon jetzt vorsichtshalber bei ihnen entschuldigen zu müssen. 

»Zu einem perfekten Abend gehört ein perfekter Song«, sagte Doyle und legte den Arm um sie. 

»Ich könnte mit einem mittelmäßigen Abend wunderbar leben«, murmelte sie zurück. Doch Orlas Gegenwehr blieb ohne Erfolg. Im nächsten Moment bekam sie ein Mikrofon in die Hand gedrückt und die ersten Töne erklangen. Den Monitor vor sich hätte sie nicht gebraucht, denn sie erkannte sofort, welche musikalische Perle Doyle ausgewählt hatte, und zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass sie jedes Wort mitsingen konnte. 

»See-ane-mone … Ein-siedler-krebs …« Was klang wie der Einstieg in ein Kinderlied, war der letzte große Hit eines Popstars aus den Achtzigern, der zurecht in Vergessenheit geraten war. Doyle hielt Pete Davis für ein musikalisches Jahrhundertgenie, das wie kein anderer die Facetten menschlicher Gefühle in mitreißende Hymnen verwandeln konnte, doch mit dieser Meinung stand er ziemlich alleine da. Für Orla war er nur ein abgehalfterter Schnulzensänger, der klang wie ein Gummihuhn, auf das man einmal zu oft getreten war.

Dass sie den Song dennoch komplett mitsingen konnte, war Doyles Schuld. Stundenlang hatte er sie bei ihrer ersten nächtlichen Überwachung im Auto damit malträtiert. Eine todsichere Methode, um wach zu bleiben, hatte er damals behauptet und Recht behalten. An Schlaf war nicht zu denken, wenn Davis aus dem Autoradio la-la-lallte.

»See-ane-mone … Ein-siedler-krebs … waren viel zu lange allein unterwegs.« Der Text war so seltsam infantil, dass schon damals die Frage im Raum gestanden hatte, ob Davis sein Image als Herzensbrecher loswerden und seine Karriere deshalb absichtlich zerstören wollte. 

Einzig Doyle schien die tiefere Bedeutung der Zeilen zu gefallen. Die Geschichte von Zweien, die einander nie gesucht und doch gefunden hatten. Die alleine gut zurechtkamen, aber zusammen unschlagbar waren. Während der Krebs der Anemone die Welt zeigen konnte, die sie ohne ihn nie hätte bereisen können, beschützte die Anemone ihn vor den Gefahren, die dort lauerten. Die eine stand für den anderen ein und umgekehrt. Eine Ode an die Freundschaft und ein Loblied auf das Vertrauen ineinander. »Ich brauch’ dich nicht, du brauchst mich nicht.« Es mutete schon etwas seltsam an, als Doyle ihr das entgegen trällerte. Da Orla aber wusste, welche Zeile folgen würde, stimmte sie mit ein: »Doch bei dir will ich sein.«

Sie hatte sich für einander entschieden. Weil sie wussten, dass ohne den anderen etwas fehlte. Ohne Doyle war sie nicht vollkommen. Eine halb so gute Agentin. Ein halb so guter Mensch. Er erdete sie, wenn sie sich verrannt hatte. Er fing sie auf, wenn die Welt sich gegen sie verschwor. 

Hand in Hand sangen sie im bunten Licht der Bühne und Orla fühlte sich so leicht wie lange nicht mehr. Als Doyle sie an sich drückte, legte sie ihren Kopf auf seine Schulter – froh darüber, ihren Einsiedlerkrebs gefunden zu haben.